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Das Führungsprinzip Achtsamkeit


von Dieter Hinze

Das Prinzip

Zum Führen gehören zwei Seiten: Die Selbstführung und die Führung Anderer. Andere zu führen ist in dem Maße möglich, in dem es gelingt sich selbst zu führen.

Führungskräfte brauchen eine Orientierung. Das Führungsprinzip Achtsamkeit zeigt einen Weg. Der Weg kennzeichnet eine besondere Art und Weise, sich selbst und andere bewusst zu führen. Er bietet eine Grundlage für die Weiterentwicklung des Bewusstseins und eine Handlungsanleitung für das achtsame Verhalten.

Die Achtsamkeit ist eine geistige Grundfunktion, die maßgeblich dazu beiträgt, die geistigen Fähigkeiten zu stärken. Sie ist auf größtmögliche Bewusstheit und Aufmerksamkeit, Klarheit und Einsichtsfähigkeit gerichtet. Sie fördert die geistige Sammlung und Ruhe.

Die Achtsamkeit richtet sich auf das ethisch-moralische Verhalten. Sie misst der Achtung des Anderen eine zentrale Bedeutung bei, fordert zum einfühlsamen und maßvollen Umgang mit anderen auf und leitet zum gewissenhaften Handeln an.

Die Achtsamkeit ist ein spirituelles Prinzip und Heilmittel. Sie richtet sich auf das harmonische Zusammenwirken von Körper, Seele und Geist und mobilisiert die Vision des Ganz-Seins und der allseitigen Verbundenheit.

Das Führungsprinzip Achtsamkeit ist ein Schulungsprogramm ebenso wie eine Methode. Einsichten werden durch praktische Erfahrung vermittelt, und achtsames Verhalten wird durch Übung erworben.

Als praktisches Prinzip stellt die Achtsamkeit eine Reihe von Aufgaben. Die Erfüllung dieser Aufgaben verlangt, voll bewusst den Weg der Achtsamkeit zu beschreiten. Die Aufgaben zur achtsamen Führung der eigenen Person haben Priorität. Sie bereiten der Führungskraft den Boden, auf dem sie stehen kann. Die Aufgaben zur achtsamen Führung Anderer erwachsen aus der Selbstführung. Sie zeigen der Führungskraft, wie sie achtsam vorgehen kann.

Alle Aufgaben richten sich im Wesentlichen auf zwei aufeinander folgende Ziele: Auf die Bewusstmachung dessen was ist, folgt die Bewusstwerdung dessen, was möglich ist.

Die Aufgaben zur achtsamen Selbstführung

In der Gegenwart stehen: Oftmals geht mir lange nach, was gewesen ist. Und immer wieder verliere ich mich in Gedanken an das, was mir bevorsteht. Deshalb übe ich mich jetzt darin, meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf den gegenwärtigen Moment zu fokussieren und nur auf das zu achten, was gerade zu tun ansteht. Wenn ich das Vergangene hinter mir und das Zukünftige auf mich zukommen lasse, wird es möglich, das Gegenwärtige bewusst zu erleben.

Nichtwertend wahrnehmen: Meistens bewerte und urteile ich, bevor ich überhaupt richtig wahrgenommen habe und lasse ich mich dabei leicht von meinen Emotionen vereinnahmen. Deshalb übe ich mich jetzt darin, mich so wahrzunehmen, wie ich bin und zur Kenntnis zu nehmen, was tatsächlich ist. Ich stelle meine Bewertungen zurück, lasse meine Vorurteile los und verurteile nicht. Ich lasse mich weder von Sehnsüchten noch von Ängsten oder Aggressionen überwältigen. Wenn ich mich einfühlsam anschauen und bejahend annehmen lerne, wird es möglich, meine Wahrnehmung zu erweitern und zu vertiefen.

Tun und Sein: Der Leistungs- und Zeitdruck lastet auf mir. Ich tue zu viel, arbeite zu schnell und verausgabe mich zu stark. Deshalb übe ich mich jetzt darin, meine Tatkraft maßvoller zu nutzen, realistische Leistungsansprüche zu stellen und angemessene Fort-Schritte zu tun. Ich achte darauf, regelmäßig innezuhalten, mich auf mich selbst zu besinnen, mich im "aktiven Nichtstun" zu üben und einfach nur zu sein. Wenn ich mich zwischen Tun und Sein ausgeglichen hin und her bewege, wird es möglich, meine innere Mitte wahren.

Festhalten und Loslassen: Ich neige dazu, an allem Möglichen festzuhalten: An Gedanken und Ansprüchen, Zielen und Sehnsüchten, Angst und Ablehnung, schlechten Gewohnheiten und Lastern. Deshalb übe ich mich jetzt darin, von unrealisierbaren Wünschen loszulassen und mich von drückenden Zukunftsängsten zu lösen. Ich versuche, mich vom Erfolgszwang zu befreien und beiße mich nicht mehr an meinem Standpunkt fest. Ich werfe geistigen Ballast ab und löse meine Verspannungen. Was mir wichtig ist, halte ich gut fest. Indem ich mich ausgeglichen zwischen Festhalten und Loslassen hin und her bewege, wird es möglich, meinen inneren Halt vor allem im Loslassen zu finden.

Ich und Selbst: Ständig bin ich mit meinem Ich beschäftigt. Ich möchte jemand sein, stelle mich immer wieder in Frage und investiere viel Kraft und Zeit, immer noch stärker, kompetenter, konkurrenzfähiger und erfolgreicher zu sein. Deshalb übe ich mich jetzt darin, den Weg zu mir selbst zu beschreiten. Ich nehme meine Person mit ihren Stärken und Schwächen, Wünschen und Ängsten aufmerksam wahr und achte sie. Ich versuche, mein inneres Gleichgewicht herzustellen und sorge dafür, dass mein "gesunder Menschenverstand" auf gesunde Weise funktioniert. Ich mache mir zunehmend bewusst, dass ich ein Teil des Ganzen und mit Allem verbunden bin. Indem ich mich ausgeglichen zwischen meinem Ich und Selbst hin und her bewege, wird es möglich, mehr Gefühl für mich zu bekommen.

Die Aufgaben zur achtsamen Führung anderer

Präsenz: Wenn ich im gegenwärtigen Moment bin, dann bin ich imstande, mich ganz auf den Anderen einzulassen. Im Umgang mit ihm bin ich uneingeschränkt aufmerksam und zugewandt. Ich bekunde mein Interesse an ihm und schließe mich ihm gegenüber auf, damit er Aufschluss über sich geben kann. Ich löse mich für den Moment von meiner Neigung das Sagen zu haben und bin "ganz Ohr".

Wertschätzung: Wenn ich nichtwertend wahrnehme, dann bin ich imstande, dem Anderen unbedingte Wertschätzung zu bekunden. Ich erachte ihn als gleichwertig. Ich löse mich von möglichen Vorbehalten und Vorurteilen und bemühe mich, ihn in seiner persönlichen Eigenart zu akzeptieren. Im Gespräch mit dem Anderen bringe ich eine wohlwollende und förderliche Haltung zum Ausdruck. Ich setze alles daran, geringschätzige und verletzende Aussagen zu vermeiden und setze mich dafür ein, den Anderen vor Schaden zu bewahren.

Mäßigung: Wenn ich in meiner Mitte bin, dann bin ich imstande, mit dem Anderen maßvoll umzugehen. Im Gespräch mit ihm konzentriere ich mich auf das Wesentliche, mache zweckmäßige und begründete Aussagen und zerrede nichts. Ich sage nichts Unwahres und vermeide Übertreibungen. Ich rede zur rechten Zeit, übe mich in weiser Zurückhaltung und im enthaltsamen Schweigen. Als Führungskraft vertrete ich meine Machtposition deutlich und zugleich behutsam und achte darauf, meine Grenzen nicht zu überschreiten. Beim Vorgehen mache ich mir meine Schritte stets bewusst, setze Ziele, die für den Anderen erreichbar sind und treffe Entscheidungen mit Bedacht.

Gelassenheit: Wenn ich über einen stabilen inneren Halt verfüge, dann bin ich imstande, in Situationen großer Herausforderung und psychischer Konfrontation vergleichsweise ruhig und gelassen zu bleiben. Ich bringe aufkommenden Druck, Erregung und Emotionen unverzüglich zur Sprache. Zusammen mit meinem Gesprächspartner bemühe ich mich um eine Klärung des Problems und unterstütze ihn darin, sich seinerseits vom Problem zu lösen. Bei alledem lasse ich mich von meinem klaren Verstand leiten und verlasse mich auf meine Fähigkeit loszulassen.

Mitgefühl: Wenn ich ein gutes Gefühl für mich selbst habe, dann bin ich imstande, einen innere Verbindung zum Anderen herzustellen. Dann zeige ich echtes Interesse an seinen Belangen. Ich versuche seine Situation zu verstehen, lasse mich von ihr innerlich ansprechen, nehme mitfühlend Anteil daran und bringe meine eigenen Gefühle zum Ausdruck. Ich versetze mich in die Lage des Anderen und zeige einfühlsam Verständnis für seine Schwierigkeiten und Sorgen. Ich ermutige ihn dazu, Änderungsmöglichkeiten zu entwickeln und biete ihm meine Unterstützung an.

Die Schulung achtsamen Verhaltens

  1. Die Einsichtskarten der Achtsamkeit
    Die Karten ermöglichen es, das Führungsprinzip Achtsamkeit als ein dynamisches System zu betrachten und zu handhaben. Sie vermitteln Einsicht in die Regeln achtsamen Verhaltens und stellen im Bild dar, worauf es ankommt.

    Mit den Karten kann der alltägliche Zustand des Normalbewusstseins mit seinen Neigungen und Verhaltensgewohnheiten dargestellt werden. Ebenso können die Schritte zur Weiterentwicklung des Bewusstseins nachvollziehbar vor-geführt werden. Dabei zeigt sich, dass die Schritte wechselseitig verbunden sind, auf einander aufbauen und einander ergänzen, und dass mit jedem Schritt ein Ziel erreicht wird.

    Die Karten können zur Bestandsaufnahme dienen. Sie können dazu benutzt werden, Einsicht in den aktuellen Zustand des eigenen Bewusstseins zu bekommen und Führungsprobleme sichtbar zu machen. Ebenso können Veränderungs- und Entwicklungswünsche anschaulich gemacht und die erforderlichen Schritte vorgenommen werden.

  2. Die Achtsamkeits-Meditation
    Meditation heißt sich besinnen (meditare), zur Mitte kommen (medio) und dies mit einem bestimmten Mittel (medium) tun. Meditation ist eine Form der Bewusstseinsschulung, die der Selbstführung dient.

    Die Achtsamkeits-Meditation ist ein praktisches Schulungsinstrument zum Aufbau eines achtsamen Grundverhaltens, zur Vermittlung grundlegender Einsichten sowie zur Schaffung von Sammlung und Ruhe. Dabei wirken Körper, Geist und Seele zusammen.

    Atem- und Geh-Meditation sind die wesentlichen Methoden. Bei der Atem-Achtsamkeit ist der Atem das Meditationsobjekt. Die Aufmerksamkeit wird voll und ganz auf das Ein- und Ausatmen gerichtet. Jeder Atemzug wird in seinem Kommen und Gehen bewusst verfolgt.

    Das achtsame Gehen ist Geh-Meditation in Bewegung. Sie fokussiert die Aufmerksamkeit auf jeden einzelnen Schritt. Es wird ganz bewusst Schritt für Schritt vorgegangen. Es werden behutsame und feste Schritte getan.

  3. Die Alltags-Achtsamkeit
    Achtsamkeit im Alltag ist Meditation in Aktion. Jede Anforderung des Alltagslebens kann zum Objekt der Achtsamkeit gemacht werden: Den Körper pflegen und praktisch-handwerkliche Tätigkeiten verrichten, Dinge beschaffen und versorgen, Freizeitbeschäftigungen nachgehen und Sport treiben, Beziehungen pflegen und Gespräche führen, Schwierigkeiten bewältigen und Probleme lösen, ...stehen, warten und vorgehen.

    Bei alledem kommt es darauf an, bewusst dabei zu sein, behutsam vorzugehen, praktische Anforderungen achtsam zu erledigen, mit Schwierigkeiten gelassen umzugehen und den Weg der kleinen Schritte zu beschreiten.

    Achtsamkeit im Alltag macht sich die Erfahrungen bei der Atem- und Geh-Meditation zunutze. Das achtsame Atmen hilft, bei allem Tun in der eigenen Mitte zu bleiben. Das achtsame Gehen fördert die Fähigkeit, Schritt für Schritt und in kleinen Schritten vorzugehen.

Der Nutzen

Das Führungsprinzip Achtsamkeit ist berufs- und situations-übergreifend auf alle Formen des Führens bis hin zur Lebensführung anwendbar.

Der Sinn und Zweck des Prinzips liegt in seiner einsichtsfördernden ebenso wie handlungsanleitenden Natur begründet. Es bietet Führungskräften die Möglichkeit, ihr Selbstverständnis zu erweitern und ihre Führungsverantwortung auf eine andere Grundlage zu stellen.

Die Wirksamkeit des Prinzips wird durch die Verknüpfung von Wissen und Erfahrung, den unmittelbaren Bezug zum täglichen Erleben und Verhalten, die innovative Möglichkeit einen unbekannten Weg zu erkunden sowie durch die methodische Vielseitigkeit gefördert.

Von großer praktischer Bedeutung ist die Schulung auf unterschiedlichen Ebenen und im ganzheitlichen Zusammenwirken von Körper, Seele und Geist. Auf diese Weise kann der Grundsatz "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" gut in die Tat umgesetzt werden.

Die entscheidende Bedeutung des Führungsprinzips Achtsamkeit liegt im wechselseitigen Zusammenwirken von Selbstführung und der Führung Anderer. Und das hat seinen guten Sinn. Denn "alles, was wir für uns tun, ist für andere. Und Alles, was wir für andere tun, ist für uns selbst." (Thich Nhat Hanh)